PB050: „Lehrer stehen nicht mit einem Bein im Gefängnis!“

Jöran Muuß-Merholz und Dr. David Klett in der Schule. Foto von Blanche Fabri unter <a title="Informationen zur Lizenz" href="https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de">CC BY 4.0</a>.
Jöran Muuß-Merholz und Dr. David Klett in der Schule. Foto von Blanche Fabri unter CC BY 4.0.

#pb21-Interview zu OER mit Dr. David Klett, Geschäftsführer der Klett Lernen und Information GmbH

Open Educational Resources (OER), also Unterrichtsmaterialien, die jeder frei bearbeiten und weitergeben kann, stoßen auf viel Sympathie. Freiheit und Offenheit finden alle prinzipiell gut – zumindest solange das nicht mit Kosten verbunden ist. Die aktuellen Entwicklungen in Polen, wo Schulbücher jetzt im großen Stil als OER entwickelt werden, bringen Schwung in die Debatte. Widerspruch regt sich dort, wo man seit Jahrzehnten mit Unterrichtsmaterialien Geld verdient, die eben nicht offen lizensiert sind: bei den Schulverlagen.

Für pb21.de hat sich Jöran Muuß-Merholz mit einem Vertreter der Branche für ein Interview getroffen – natürlich in einer Schule. Dr. David Klett ist bei der Klett-Verlagsgruppe für den Bereich Lernen und Information zuständig. Außerdem ist er Geschäftsführer von MeinUnterricht.de, einer Plattform, auf der Lehrer/innen digitale Arbeitsblätter über eine Flatrate erwerben können.

Video „Lehrer stehen nicht mit einem Bein im Gefängnis!“ von Blanche Fabri, Melanie Kolkmann und Jöran Muuß-Merholz unter CC BY 3.0.

Dieses Interview ist auch als Podcast verfügbar.

Was sind OER?

Open Educational Resources, kurz OER, heißen Lernmaterialien, die unter einer offenen Lizenz angeboten werden. Das heißt das Material darf kopiert, verbreitet und bearbeitet werden.
Themen rund um OER bilden einen Schwerpunkt auf pb21.de. Einen Überblick über die Projekte, HowTo’s und Artikel, die zu OER auf pb21 zu finden sind, bietet das OER-Dossier.

Was ist das Problem mit OER?

David Klett sieht sich nicht als Gegner von OER – im Gegenteil: Erstellung und Austausch von Unterrichtsmaterialien sei selbstverständlicher Teil des Lehrerberufs: „OER ist zunächst mal nur eine Erweiterung des Angebots und ein Teil der Vielfalt, die eine vielfältige Bildungswelt braucht.“ Kletts Kritik setzt dort an, wo öffentliche Mittel in die Entwicklung von solchen Materialien fließen: „Ich sehe ein Problem bei zentralen Ausschreibungen, die OER finanzieren. Das heißt: Gelder, die heute Lehrer zur Verfügung haben, werden dann an zentralen Stellen verwaltet durch Jurys, Behörden, Beamten. Dann geht es nicht mehr um die Gunst des einzelnen Lehrers, sondern um Antragslyrik, um Connections, um oft willkürlich oder politisch motivierte Ausschreibungsbedingungen.“ Nun sind Ausschreibungen und zentrale Vergaben ja keine grundsätzlich neuen Verfahren. Dennoch sieht Klett keine Lösung darin, dass sich Verlage zukünftig einfach an solchen Ausschreibungen beteiligen: „Es gibt einen radikalen Unterschied zwischen Agentur und Verlag. Die Agentur hat ihr Geld sicher. Der Verlage finanziert seine Produkte vor. Das beflügelt den Wettbewerb und zwingt die Verlage dazu, sich wirklich anzustrengen. Das Ringen um den Bedarf des einzelnen Lehrers – was will der Lehrer wirklich – macht uns gut. Bei der Agentur geht es bei allen Lippenbekenntnissen immer darum, was die Ausschreibenden wollen – bei jeder Ausschreibung der Welt.“

Klett berichtet von Erfahrungen der Klett-Verlagsgruppe mit Ausschreibungen für Schulbücher aus Osteuropa: „Wir sehen kein einziges Land, in dem sich die Bildung in irgendeiner Form durch OER verbessert hat. Bislang sehen wir vor allem, dass überall, wo zentrale Ausschreibungen für die Entwicklung von OER wie z.B. in Polen stattfinden, in kürzester Zeit die Verlagsstrukturen zusammenfallen.“

Rechtssicherheit für Lehrer?

Auch jenseits der großen politischen Fragen sieht Klett nicht, dass OER den Alltag von Lehrern erleichtern würde, z.B. durch mehr Rechtssicherheit in Sachen Urheberrecht. „Ich habe noch nie von einem Lehrer gehört, der mal eine Seite zu viel kopiert hat und sofort mit einem Bein im Gefängnis stand. Ich kenne keinen einzigen Fall, wo ein Lehrer angezeigt wegen Urheberrechtsverletzungen wurde.“

Das Argument vieler OER-Befürworter, dass nur über freie Lizenzen auch Kooperation und Austausch von Materialien im größeren Umfang möglich sei, sieht Klett skeptisch: „Ich glaube, dass der Wunsch nach Sharing und vielleicht auch nach totalem Remixen ein Stück weit zu stark betont wird. Ja, das ist ein wichtiges Thema. Aber es gibt viele verdammt wichtige andere Themen, die den Lehrer genau so oder noch mehr drängen. Da bleibt die Zeit für viele Lehrer nicht, jedes einzelne Unterrichtsmaterial an die Bedürfnisse jedes Schülers anzubieten. Und das ist genau das Leistungsversprechen, das wir geben.“

Geschäftsmodelle für Schulverlage im digitalen Wandel

Und wenn die Schulverlage sich hier irren? Wenn angesichts der Ziele von Individualisierung und Binnendifferenzierung einerseits und der fortschreitenden Digitalisierung der Schulen andererseits Lehrer tatsächlich verlangen, Materialien bearbeiten und teilen zu können? „Wenn Lehrer ihre Unterrichtsmedien verändern und mit anderen Medien mixen wollen, dann müssen wir Verlage Modelle finden, die das ermöglichen. Und wenn Lehrer das mit anderen Lehrern in Schulen teilen wollen, dann müssen wir dafür Lizenzmodelle finden. Das versuchen wir schon, aber das braucht auch Zeit.“

Allerdings erwartet Klett keine Revolution durch OER: „Ich bin mir nicht sicher, ob OER und Digitalisierung Hand in Hand laufen. Ich habe noch nicht verstanden, wie Unterricht in den Klassenzimmern wirklich durch die Lizenz anders werden soll. Es gibt jede Menge andere Entwicklungen mit der Digitalisierung, die nicht auf OER beruhen.“ Möglicherweise werde sich die Frage nach OER aber noch einmal anders stellen, wenn in Zukunft Computer und Tablets Alltag in jedem Klassenzimmer sein werden. „Dann reden wir nicht mehr von Arbeitsblättern oder Übungsaufgaben, sondern von komplexeren Systemen. Das heißt: laufende Leistungsdiagnostik, Zusammenführen von Daten, adaptive Lernmaterialien, die sich entlang des Leistungsstands des Schülers verändern und und und. In dem Kontext wird sich die Frage nach OER neu stellen. Der Blick in die USA zeigt, dass da Bildungsmedienunternehmen wieder ihre Chance finden.“

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Wir danken der Bugenhagen-Schule Alsterdorf in Hamburg für die Möglichkeit, in ihren Räumen zu drehen.


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Jöran ist Diplom-Pädagoge und freiberuflich in verschiedenen Bildungsbereichen aktiv. Am liebsten mag er Schnittmengen aus 1. Bildung / Lernen, 2. Medien / Kommunikation und 3. Management / Organisation.