Demokratie lernen mit Liquid Feedback

Foto „marina-liquidfeedback1" von michamo unter CC BY 2.0.
Foto „marina-liquidfeedback1“ von michamo unter CC BY 2.0.

Digitale Werkzeuge zur Partizipation – Teil II

Politik lebt von der Herbeiführung von Entscheidungen. Deren Darstellung in den Medien verkürzt jedoch häufig den Weg, den sie durchlaufen haben. Welche Rolle demokratische Entscheidungshorizonte dabei spielen wird meist verschwiegen. Wie können die oft langwierigen politischen Prozesse transparent und damit nachvollziehbar gemacht werden? Die Software „Liquid Feedback“ ist ein Werkzeug dafür.

Liquid Feedback (oder auch Liquid Democracy) ist eine internetbasiertes Werkzeug zur Entscheidungsfindung, das zu mehr Beteiligung im demokratischen Prozess führen soll. Die Software ist Open Source und wurde von Mitgliedern der Piratenpartei entwickelt. Open Source heißt, dass jeder die Software an seine Bedürfnisse anpassen kann. So könnte zum Beispiel ein Verein die Software so verändern, dass sie mit den in der Vereinssatzung festgelegten Entscheidungsprozessen vereinbar ist. Das Entscheidungsfindungssystem basiert auf einer Internetanwendung, die über den eigenen Browser zu bedienen ist.

Die moderne Informationstechnologie soll hier helfen, dennoch eine breite Einbindung aller interessierten Personen zu ermöglichen. Neben der Software-Anwendung wurde dazu auch ein Verfahren entwickelt, dass sich in drei Phasen gliedert:Liquid Feedback wird momentan zum Beispiel von der Piratenpartei ausprobiert. Ausgangspunkt war der Wunsch nach mehr direkter Demokratie und die gleichzeitige Einsicht, dass diese im Umfang eines komplexen gesellschaftlichen Zusammenhangs wie einem Staat – oder auch nur im Rahmen von politischen Auseinandersetzungen innerhalb einer Partei – kaum praktizierbar ist.

  1. Neu-Phase

  2. Diskussionsphase

  3. Abstimmungsphase

1. Neu-Phase

Alle Initiativen, die von Mitgliedern der Gemeinschaft (der Partei, des Vereins, der Gesellschaft) eingebracht werden, befinden sich zunächst in der Neu-Phase. In dieser ersten Phase geht es darum herauszufinden, ob ein Antrag genügend Zustimmung findet, um in der nächsten Phase diskutiert zu werden. In der Neu-Phase ist es möglich, den Antrag so zu gestalten, dass alle Mitglieder noch Ergänzungen oder Veränderungen vornehmen können. Der Antragsteller kann sich aber auch dafür entscheiden, dass niemand den Antrag weiter bearbeiten kann. Es ist auch möglich, alternative Vorschläge zu machen und diese an die Ursprungsinitiative zu „koppeln“.

In der Neu-Phase werden zudem die Stimmen gezählt, die den Antrag grundsätzlich unterstützen. Gibt es mehrere Initiativen, die das gleiche Thema behandeln, werden die Unterstützerstimmen zusammengezählt.

Es ist jedem Mitglied der Gemeinschaft möglich Anträge zu stellen. Jedes Mitglied kann zudem abstimmen. Mitglieder können sich aber auch entscheiden, ihre Stimme an ein anderes Mitglied abzugeben. Dieses Prinzip des Delegated Voting wird dann interessant, wenn ein Wähler sich zwar zu einem Antrag äußern möchte, seine Kompetenzen aber überschritten sieht und sich lieber auf von ihm gewählte Fachleute verlassen möchte. Diese Stimmabgabe kann aber jederzeit widerrufen werden und gilt nur für eine bestimmte Abstimmung oder ein bestimmtes Ressort. Die Delegation der Stimme kann in jeder Phase des Prozesses vorgenommen werden.

Das Delegated Voting erfordert es, dass das Abstimmungsverhalten aller Beteiligten öffentlich gemacht werden kann. Wenn sich ein Mitglied der Gemeinschaft entschließen sollte, einen Experten für sich wählen zu lassen, basiert diese Entscheidung grundlegend darauf, dass die politische Richtung des Delegierten transparent ist.

2. Diskussionsphase

Hat eine Initiative ausreichend viele Befürworter erhalten, wird in der nächsten Phase darüber diskutiert. In der Diskussionsphase tauschen die Mitglieder Argumente für und gegen eine Initiative aus. Diese Phase ist genauso wie die Phase zuvor zeitlich begrenzt, kann aber (nach Abstimmung) verlängert werden.

3. Abstimmungsphase

Im letzten Schritt erfolgt die Abstimmung über den Antrag. Jedes Mitglied kann selbst wählen oder aber seine Stimme an ein beliebiges anders Mitglied delegieren. Aus diesem „flüssigen“ Übergang von direkter zu indirekter Demokratie, der jederzeit möglich ist, ergibt sich auch die Bezeichnung „Liquid Democracy“, also „flüssige Demokratie“.

Einblicke in die Benutzeroberfläche

In diesem kurzen Video der Kontextschmiede wird Liquid Democracy anschaulich erklärt. Wie es aussieht lässt sich auch in einer Test-Umgebung begutachten.

Einen Überblick in die wichtigsten Funktionen bietet auch die folgende Tabelle:

Screenshot  (fällt nicht unter eine freie Lizenz).
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Die einzelnen Initiativen werden in Themenbereiche untergliedert.

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Alle Initiativen befinden sich zu Anfang in der „Neu-Phase“. Während dieser Phase wird entschieden, ob die Initiative weiter diskutiert wird. Dafür ist es entscheidend, wie viele Unterstützer sie auf sich vereinen kann.

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Bei einer Initiative ist einsehbar, wer sie eingestellt hat, wie sich der Text verändert hat („Historie“, ähnlich wie bei Wikipedia) und wer sie unterstützt. Zusätzlich können alternative Initiativen daran gekoppelt werden. Auch die Unterstützer von alternativen Initiativen zum gleichen Thema werden gezählt um zu entscheiden, ob ein Thema für die nächste Phase zugelassen wird.

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Sichtbar ist auch, wer sich für eine Initiative interessiert. Zudem sind die gewählten Delegationen zu sehen, genauso wie…

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… die Delegationen eines gesamten Themenbereichs.

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Alle Mitglieder können eine zeitliche Übersicht zu den einzelnen Themenbereichen abrufen. Welche Themenbereiche relevant sind ist daran ersichtlich, wie viele Mitglieder der Initiative ihre Stimme geben.

Liquid Feedback in der politischen Bildung

Liquid Feedback ermöglicht eine Auseinandersetzung mit Entscheidungsfindungsprozessen. So kann in einem Seminar zu Demokratietheorie aus grauer Theorie ein praktisch zu nutzendes Demokratiemodell werden. Durch die schwimmende Grenze zwischen repräsentativer und direkter Demokratie können unterschiedliche Demokratiemodelle simuliert werden. Man könnte vergleichen wie Abstimmungen verlaufen in denen Stimmen delegiert werden und was passiert, wenn nur direkte Demokratie möglich ist. Anhand von Liquid Feedback können demokratische Abläufe analysiert und besprochen werden. Hierdurch kann das Demokratieverständnis vertieft und gefestigt werden.

Für das politcamp 2010 wurde Liquid Feedback genutzt, um Inhalte für das Barcamp vorzuschlagen. In der Diskussionsphase wurde deutlich, welche Vorschläge sich nur wenig voneinander unterscheiden und zusammengefasst werden können. Der Abstimmungsprozess diente dazu, das Interesse für die Vorschläge zu ermitteln.

Liquid Feedback kann auch zur Erstellung eines Veranstaltungsprogramms genutzt werden. Statt Initiativen können Seminarthemen vorgeschlagen werden. Jeder, der möchte – Pädagog_innen oder Teilnehmer_innen – kann Vorschläge formulieren. Hat ein Vorschlag genügend Interessenten kann in der nächsten Phase damit begonnen werden, das Thema näher auszuarbeiten bzw. Schwerpunkte zu setzen, die diskutiert werden können. In letzter Instanz kann dann eine Favorisierung der Seminarthemen stattfinden, also die Abstimmung darüber, welche Themen schließlich in das Programm aufgenommen werden.

Soviel Mitbestimmung wird im Alltag oft nicht geboten. Und falls doch, wird sie mangels Zeit von den Teilnehmer_innen häufig nicht wahrgenommen. Eine Hürde ist zudem, dass das Verfahren auf den ersten Blick sehr kompliziert ist. Für die Teilnehmer_innen ist es nötig sich zunächst in die grundsätzlichen Möglichkeiten und Verfahrensweise von Liquid Feedback einzulesen, um aktiv teilzunehmen.

In Tagungshäusern ist es auch denkbar, den persönlichen Kontakt zwischen Teilnehmenden und Seminarleitenden vor Ort zu nutzen, um die Teilnehmenden mittels der partizipativen Gestaltung des Bildungsprogramms an dieses Werkzeug heranzuführen. Zum Beispiel könnten Laptops im öffentlichen Raum der Tagungsstätte genutzt werden, um Seminarvorschläge einzureichen oder darüber abzustimmen.


In der Reihe „Digitale Werkzeuge zur Partizipation“ erschien außerdem als Teil I der Artikel „Bürgerbeteiligung im Online-Zeitalter“ und als Teil III „Ist der Beutelsbacher Konsens noch zu retten?


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Noemi Kirschbaum ist Studentin des Masters Medienkultur an der Universität Siegen und arbeitet freiberuflich für das DGB Bildungswerk NRW im Bereich der Erwachsenen- und Jugendbildung.