Digitale Bildung: Wo bleibt das Positive?

The Arabian Nights Entertainments. Illustration:  Milo Winter; gemeinfrei
The Arabian Nights Entertainments. Illustration:
Milo Winter; gemeinfrei

Lernen im Digitalen Klimawandel – Teil VI (und Schluss)

Wo also bleibt das Positive? Im letzten Beitrag dieser Serie ist es Zeit für ein bisschen Aufmunterung. Der vorige Post war ja ein recht finsterer Ausblick auf die Bildung im digitalen Zeitalter, weil es dort um die Logik der dominierenden Systeme ging: ökonomisch, sozial, technisch. Den Bildungsmanagern und Didaktikern geht es eben nicht zuerst um Ermächtigung und Unterstützung der Lernenden. Aber es gibt ja Grund zur Hoffnung und der wichtigste Grund ist das wildwüchsige Web selbst. Fast jede/r hat nun ein Kulturzugangsgerät in der Tasche. Das Wissen der Welt und die Expertise der erfahrensten Praktiker/innen auf allen Fachgebieten werden bald gänzlich online sein. Wie könnte das nicht dazu führen, dass die Welt klüger und gebildeter wird?

Aladins Wunderlampe

Es ist inzwischen Mode geworden, über die naiven Netz-Utopisten verächtlich hinwegzugehen. Aber das Wunder des Web bleibt ja weiter bestehen: die unglaubliche Umpolung, die die Einzelnen ins Zentrum der Welt stellt. Mit den Worten des ehemaligen Wikileaks-Aktivisten Daniel Domscheit-Berg:

„Das Internet ist flach. Das erste Werkzeug, das wir als Gesellschaft haben, das uns zu Gleichen unter Gleichen abstrahiert. Wir können alle in einen Dialog auf Augenhöhe eintreten. Alle Nutzer sind gleich, egal wie alt sie sind, welche Ausbildung sie haben, welchen sozialen Hintergrund. Wir können etwas sagen, und was diese Stimmen sagen, entscheidet dann darüber, ob ihnen jemand zuhört oder nicht.“

Das ist enorm, und daran hat sich im Prinzip auch nichts geändert. Auf Bildung bezogen: Aus unselbständigen Schülern werden autonome User. Lauter Aladins mit digitalen Wunderlampen. Nun muss man sich nicht mehr einer Institution unterwerfen, um das lernen zu dürfen, was zählt. (Tatsächlich sind die meisten Bildungsinstitutionen ja eher träge, wenn es um Wissen und Kompetenzen auf dem letzten Stand geht.)

Das heißt natürlich nicht, dass morgen das Goldene Zeitalter ausbricht. Es ist ja erstmal nur Wissen: Buchstaben und Bytes kann man nicht essen. „Bildung“ als Rohstoff des 21. Jahrhunderts? Leute, die es mit Bildung allzu genau nehmen, tragen schon immer ein hohes Prekariats-Risiko. Aber jedenfalls: Diesen Geist bringt man nicht mehr zurück in die Flasche.

Was sind also positive Triebkräfte, die jetzt schon im System wirken? Von wem oder was gehen sie aus? Und wie könnte die Bildungswelt in zehn Jahren aussehen, wenn es richtig gut läuft? Nicht als Utopie, wohlgemerkt, sondern als einigermaßen pragmatische Projektion?

Die Pioniere

My own "Aladdin's lamp" from Afghanistan....made a wish tonight! Foto von Faylyne; Lizenz CC BY 2.0
My own „Aladdin’s lamp“ from Afghanistan….made a wish tonight! Foto von Faylyne; Lizenz CC BY 2.0

Inzwischen gibt es an vielen Stellen Lehrende, die auf eigene Faust digitale Netz-Medien und selbstgesteuertes, kollaboratives und produktives Lernen in Verbindung bringen. Seit 2008 gibt es die deutschen Educamps, offene „Mitmach-Konferenzen“ nach dem Barcamp-Modell, auf denen sich Experten und Lehrende im Schul- und Hochschulbereich treffen, um sich „aktiv und kritisch mit innovativen Formen, Formaten, Technologien, Strategien etc. des mediengestützten Lernens“ auseinanderzusetzen. An vielen Stellen wird das nun auch in der Praxis erprobt: Hier beschreibt etwa Jöran Muuss-Merholz die Oskar-von-Miller-Schule in Kassel als eine Art „Großlernbüro“. Und als „Kinderkonferenz“ wird eine holländische iPad-Schule in einem großen Geo-Artikel charakterisiert. Der Text ist im übrigen ein einziges flammendes Plädoyer für neues Lernen mit digitalen Medien, in dem auch die Kölner Kaiserin Augusta Schule eine wesentliche Rolle spielt.

Auch an Hochschulen gibt es eine wachsende Zahl von untereinander vernetzten AktivistInnen. Sie treffen sich etwa bei Konferenzen zu MOOCs (massenhafte offene Online-Kurse) oder zu OER (Offenen Lehr/Lern-Ressourcen). Die Mathematiker Christian Spannagel (PH Heidelberg) und Jörn Loviscach (FH Bielefeld) experimentieren mit Videos und dem Flipped Classroom-Konzept. Mit ihren Youtube-Videos sind sie fast schon zu deutschen „Rockstar-Professoren“ aufgestiegen. Beide gehören auch zu den ersten, die hier selbst MOOCs mitentwickelt haben. Besonders interessante Entwicklungen gibt es auch an der Fachhochschule Joanneum in Graz und dem Mediencampus in Darmstadt-Dieburg: Dort sind im Jahr 2014 neue Studiengänge entwickelt worden, die sich auf „Content Strategien“ konzentrieren, die derzeit im Netz die herkömmliche PR ablösen. Auch da wurden nicht zuletzt aus der intensiven Beschäftigung mit Netz-Medien heraus radikal lernerzentrierte Formen des Studiums entwickelt. Wieder spielen Barcamps und Lernprojekte eine wichtige Rolle.

Können solche Pionier-Netzwerke die Verhältnisse an Schulen und Hochschulen umwälzen? Kann durch bloße Ansteckung eine Graswurzel-Revolution losgetreten werden? Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es in 10 Jahren solche Aktivitäten flächendeckend gibt. Ganz sicher entsteht hier ein Potenzial, das sich für weitere Reformen nutzen lässt. Aber ob sich so die eingefahrenen Strukturen wirklich ändern lassen, ist jedenfalls zweifelhaft. Obwohl es noch viel mehr Beispiele als die genannten gibt, sind es immer noch sehr wenige, wenn man sie an der Gesamtzahl der Lehrenden misst. Am EdchatDE, eine Art selbstorganisierter Lehrerfortbildung, die via Twitter wöchentlich stattfindet, beteiligen sich derzeit zwischen 100 und 200 Leute. Die meisten berichten, dass sie an ihren Schulen recht allein dastehen. Gerade der Nachwuchs ist eher konservativ eingestellt. An den Hochschulen ist es nicht viel anders. Und die klassischen Volluniversitäten sind ohnehin noch kaum erfasst.

Technologien

Arabian Nights  Illustrator: Albert Letchford; gemeinfrei
Arabian Nights
Illustrator: Albert Letchford; gemeinfrei

Wenn es die begeisterten Menschen allein nicht schaffen, das Bildungssystem von Grund auf verändern, dann vielleicht die technologische Entwicklung. Tatsächlich hat sie bisher eine mindestens ebenso große Rolle gespielt. Es war ja nicht so, dass die Leute nach Emails und SMS verlangt hätten, nach Webseiten und Blogs, nach Laptops und Smartphones, nach WLAN und mobilem Netz. Es war eher umgekehrt: Die Möglichkeiten waren plötzlich da und suchten sich dann erst ihre Anwendungen. Und auf einmal hatten sich, zuerst unbeachtet und unterschätzt, ganz neue Formen der Kommunikation und des Wissensaustauschs herausgebildet, die in Konkurrenz zum gewohnten System stehen.

Was kann sich da überhaupt noch verändern? Wir sind ja jetzt schon atemlos von den letzten 10 Jahren. Die Voraussage liegt aber nahe, dass die bisherigen Trends sich fortsetzen: Es wird trotz aller Widerstände in den deutschen Schulen und Hochschulen bald überall WLAN und damit permanenten Netzzugang für jede/n geben. Das erscheint eher unscheinbar, schließlich haben die meisten das schon zuhause und unterwegs, aber die Wirkung ist nicht zu unterschätzen. Das Knappheits-Regime der Papier-und-Druck-Kultur ist erst dann wirklich beseitigt, wenn jede/r jederzeit ein Netz-Gerät benutzen kann, um ins Netz zu gehen und selbst Inhalte hochzuladen. Es wird dann statt Büchern auch sehr dünne, leichte Lesegeräte geben, die fast nichts mehr kosten und jederzeit Text aus dem Netz beziehen können.

Erst dann werden mobile, persönliche Netz-Medien auch als Arbeits- und Lernumgebung so selbstverständlich sein, wie sie es in der Freizeit fast schon sind. Dann bilden sich auch die entsprechenden Kulturtechniken in der breiten Masse heraus, ohne dass man vorher erst eigens Lehrer dafür ausbilden und Lehrpläne schreiben muss. Auch wenn die großen Systeme gerade dabei sind, die Kontrolle über das wildwüchsige Netz zurückzuerlangen – das betrifft viellleicht die persönlichen Daten, aber nicht das Wissen, das in und mit diesen Medien generiert und geteilt wird.

Wird es unter diesen Umständen noch die heutige Test-Orgien geben? Wird es überhaupt noch einen grundsätzlichen Unterschied geben zwischen den Privilegierten, die zum Studium zugelassen sind, und denen, die einfach so lernen und studieren? Nein, sagt etwa Christoph Köck, der Geschäftsführer des Hessischen Volkshochschulverbands, in einem Diskussionsbeitrag, den er auf der Webseite der Bertelsmann Stiftung hinterlassen hat:

„Der Status der Bildungsinstitution wird in einer digitalisierten Gesellschaft zunehmend unbedeutender. Und letztlich wird dies auch – wenn wir ehrlich mit uns sind – zur Auflösung der klassischen institutionellen Formate führen. Wollen Sie ernsthaft, wenn das Wissen der Welt zu nahezu 100% im Netz abgebildet ist, dieses noch von einer Universität im derzeitigen Modus organisieren lassen? Ob dann 40% mehr oder weniger zur Uni wollen, ist dann doch völlig belanglos.“

Vielleicht tun sich ja die Volkshochschulen mit ihrer losen Graswurzelstruktur ja tatsächlich leichter mit der neuen Situation. Jedenfalls haben sie schon einen eigenen, innovativen MOOC veranstaltet und anschließend ein Barcamp durchgeführt, um die Möglichkeiten der Netz-Medien für die VHS der Zukunft auszuloten.

Die Unternehmen

Die Diskussion über die Hochschulreformen landet immer wieder bei einer scheinbar schlüssigen Antinomie: Auf der einen Seite sind dann die reformunwilligen und weltfremden Bewohner des Elfenbeinturms. Auf der anderen Seite die dynamischen Manager, die sich den Herausforderungen der globalisierten Welt stellen und die Hochschulen wie Unternehmen organisieren. Und wenn man die Bewertung umdreht: Auf der einen Seite die Bewahrer der Humboldt’schen Bildungsidee und auf der anderen Seite die McKinsey-Jünger, die für die Bildung auch nur eine Form von Kapital ist, messbar in Credit Points und am Ende in Euro und Cent. Die Bildungstechnologien sind in diesem Weltbild klar den Managern zugeordnet: Hightech für mehr Effizienz, mehr Masse, mehr Daten, mehr künstliche Intelligenz.

Diese Gegenüberstellung stimmt aber nicht mehr. Jedenfalls dann nicht, wenn man diese altmodische Idee von Manager-Rationalität und Topdown-Bildung mit Entwicklungen in Unternehmen kontrastiert, die sich gerade für die neue digitale Ökonomie umzubauen versuchen. Und das ist gerade in den letzten ein, zwei Jahren ein Trend, der bei vielen deutschen Groß-Mittelständlern spürbar wird. Es ist nämlich gar nicht so, dass die von den Universitäten passgenau gedrillte Absolventen verlangen, nach algorithmisierten Curricula, die die Unternehmen selbst bis zum letzten Credit Point ausgearbeitet haben. Das Wissen, das in den Märkten von morgen gebraucht wird, ist noch gar nicht vorhanden. Sogar die Jobbeschreibungen gibt es zum Teil noch gar nicht.

Der offene „Learning Campus“, den Adidas gerade eröffnet hat, ist etwa radikal auf informelles Lernen ausgelegt. Die Grenze zwischen Arbeiten und Lernen ist aufgehoben. Herkömmliche Kurse sind ersetzt durch offene, digitale Lernumgebungen, in denen sich die Lernenden ihren eigenen Weg suchen. Das wäre gerade an den „unternehmerischen Universitäten“ unvorstellbar, die sich an den Organisationsformen der 1990er Jahre orientieren. Erstaunlicher Weise gibt es ähnliche Bestrebungen in vielen Unternehmen und Organisationen, vom schwäbischen Hidden Champion bis zur Schweizer Post. Bei der eLearning-Summit Tour, wo sich die Fachleute treffen, rennt man inzwischen mit solchen Ideen offene Türen ein.

Bis vor kurzem war das Training und erst recht das eLearning in den meisten Unternehmen so schablonenhaft und mechanisch, wie man sich das denkt. Seit kurzer Zeit ändert sich das, und digitale Netz-Medien spielen auch hier eine entscheidende Rolle. Seit die neuesten Software-Versionen von IBM Connect und MS Sharepoint tatsächlich Communities und Web 2.0-Kollaboration ermöglichen, ist auch der Umbau der traditionellen Büro-Organisation möglich geworden. Bosch hat diesen Umbruch 2012 eingeleitet: In den flexibleren Projektstrukturen bekommen die Mitarbeiter eine andere, anspruchsvollere Rolle. Die Schlagworte dafür sind Connected Company, Social Business, Future Workplace. Das klingt nach der üblichen hohlen Change-Rhetorik, aber das stimmt nicht: Es passiert tatsächlich. Der Umbruch ging wohlgemerkt von oben aus: Die Geschäftsleitung erkannte, dass die Digitalisierung zur Existenzfrage geworden ist. Wenn sich die Arbeits- und Lernkultur nicht schnell und radikal ändert, kann es sein, dass die Weltfirma Bosch schon in 10 Jahren nicht mehr existiert.

Derzeit ist die Dynamik in Unternehmen wie Adidas und Bosch sehr viel größer als im Bildungssystem. Das lässt die Idee noch viel absurder erscheinen, dass ausgerechnet an den abgekapselten Hochschulen das wirtschaftsrelevante Wissen definiert und vermittelt werden soll. Zu erwarten ist eher der umgekehrte Prozess: Der Impuls für den Umbau des Bildungssystems, wenn er denn stattfindet, wird von draußen kommen, aus der Wirtschaft. Und nicht nur aus den großen Organisationen, sondern auch aus der unsichtbaren, informellen Weiterbildungs-Universität, die wir das Web nennen.


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Maertin Lindner berät Organisationen und Unternehmen dabei, wie sie Wissens- und Lernprozesse mit den Mitteln des Web neu gestalten können. Autor, Blogger, Speaker.