Der große Bruch: Warum das Netz das, was wir „Bildung“ nennen, von Grund auf verändert

Ort der Microsoft Technical Education-Konferenz 2013. Foto von <a title="Zum flickr-Profil" href="https://www.flickr.com/photos/rainerstropek/9148388655">rainerstropek</a> unter <a title="Zum Lizenztext" href="https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/">CC BY SA 2.0</a>.
Ort der Microsoft Technical Education-Konferenz 2013. Foto von rainerstropek unter CC BY SA 2.0.

Lernen im digitalen Klimawandel – Teil I

Revolution, welche Revolution? Es geht doch alles noch seinen Gang: Die Gymnasiasten machen weiter, die Hauptschulen machen weiter, die Hochschulrektorenkonferenz macht weiter, die Weiterbildungs-Seminarhotels machen weiter. Alle rennen und radeln, um ein Zertifikat zu ergattern, mit dem sie sich in das obere Drittel der Gesellschaft retten können.

Hat das Netz daran irgendwas geändert?

Bildung in der Krise

Wenn jemand „Bildung“ sagt, geht es um Krise. Das ist so seit der Zeit um 1900, als die Geisteswissenschaftler den bis dahin vergessenen Humboldt (pdf) aus der Versenkung holten, um sich gegen den Ansturm der damals neuen Technologien zu wehren. Damals hatte sich das bürgerliche Schul- und Hochschulsystem gerade erst ausgeformt, aus dem Geist der bürokratischen Organisation und der Großindustrien. Und seitdem wird diese Debatte alle paar Jahrzehnte wiederholt.

„Die Bildung und das Netz – Lernen im digitalen Klimawandel“

eine Artikelreihe von Martin Lindner
„Die Bildung und das Netz – Lernen im digitalen Klimawandel“ von Jöran Muuß-Merholz und Melanie Kolkmann unter CC BY 3.0.
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1964 diskutierten Reformer und Konservative die „Bildungskatastrophe“, weil das alte bildungsbürgerliche System nicht mehr recht zu den Anforderungen der aufstrebenden internationalen Wirtschaftsmacht passte. Es folgte die (widerstrebende) Öffnung der Hochschulen für breite Schichten. 1994 ging es um das kommende Zeitalter der Informationstechnologie und der Globalisierung. Bildung müsse nun wissenschaftlich, wirtschaftlich, wettbewerbsfähig, international und neuen Medien gegenüber aufgeschlossen sein, forderte nicht nur die Bertelsmann-Stiftung. Es folgte die Übernahme der Hochschulen durch die Manager: Wettbewerb und Karrierismus, Bologna und SAP, Standardisierung, Messbarkeit und Optimierung aller Prozesse.

Warum soll also nun ausgerechnet das Netz den großen epochalen Bruch markieren? Tatsächlich hat es ja bisher gerade im Bereich der formalen Bildung gar keine besonderen Spuren hinterlassen. E-Mails, Kursplattformen, ein bisschen Wikipedia — das alles ist nur Ergänzung für einen Lehr/Lern-Betrieb, der seit 40 Jahren in sich selbst kreist. Das schrankenlose Netz ist ein Freizeitvergnügen. Wenn es wirklich ernst wird, findet die Bildung, die zählt, immer noch in abgeschlossenen Zimmern, Instituten, Fächern statt.

Und trotzdem: Ohne es recht zu merken, sind wir schon mitten drin in der Bildungsrevolution, die vom Netz getrieben wird. Es ist ein Effekt, der vergleichbar ist mit dem Klimawandel: Die Umweltbedingungen verändern sich für alles, was mit Wissen und Weltorientierung zu tun hat. Die Strukturen weichen auf, bis sie plötzlich auseinanderfallen.

Das heißt, eigentlich sind es ja zwei digitale Bildungsrevolutionen: Eine von oben und eine von unten. Einerseits geht es um Bildung als Verteilung von gesellschaftlichen Chancen, andererseits geht es um die ganz persönliche Ermächtigung der Lernenden. Einmal geht es um neue Märkte, Datenströme und ihre zentrale Auswertung. Das andere Mal geht es um die technische Verstärkung von menschlicher Kommunikation und menschlichem Wissen.

Massenhaftes E-Learning oder Weblernen?

Aber wie soll sich das verändern, was sich oft noch immer in wilheminischen Schulkasernen abspielt, mit dicken Mauern und Türmchen? Und meistens in den zugigen Glas-Beton-Kästen aus den 1970ern, in die es inzwischen hineinregnet? Natürlich gibt es Pioniere, die den Geist des Netzlernens dorthin tragen, aber das sind Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Von innen wird die große Reform nicht kommen.

Eher schon von der „digitalen Innovation“ als Schlüsselfaktor im großen Wettbewerb, der von Politikern und Managern immer weiter angeheizt wird. Hier wird mit Budget belohnt, wer den alten Wein durch die neuen Leitungen presst, so billig und effektiv wie möglich. Das ist jedenfalls nicht folgenlos. Aber ist es der große Sprung nach vorn? Im besten Fall bietet es für viel weniger Geld viel mehr Leuten als bisher die Chance, einen höheren Bildungsabschluss zu erwerben. Es fragt sich nur, was sie dann damit anfangen können, wenn der Abschluss nicht mehr, wie früher, zur Abgrenzung gegen die Masse taugt.

Diejenigen, die diese Art von Innovation predigen, reden von einer neuen globalen Elite, die jedem offenstehen soll. Paradebeispiel ist dann immer der 15jährige Mongole, der über das Internet am ersten MOOC-Massenkurs des M.I.T. teilnahm, Elektronik für Ingenieure auf Elite-Niveau, und am Ende mit der maximalen Punktzahl den Test bestand. Jetzt studiert er mit Stipendium vor Ort. (Allerdings muss er schon vorher eine leistungsfähige Breitband-Verbindung und sehr gute Englischkenntnisse gehabt haben.)

In diesem elitären Verständnis von Bildung treffen sich Bill Gates-Stiftung, Bertelsmann-Stiftung und der Künstliche Intelligenz-Forscher Sebastian Thrun, der das erste MOOC-Unternehmen Udacity gründete, zugleich Erfinder des selbstfahrenden Google Car und Stanford-Professor für Künstliche Intelligenz.

Immerhin bringt diese von oben getriebene Bildungstechnologie-Welle zweifellos den Laden in Bewegung. Dass die sofort ausgerufene MOOC-Revolution dann allerdings doch eher steckenblieb, zeugt von einem grundsätzlichen Missverständnis der Internet-Revolution: E-Learning ist nicht Weblernen. Das Netz ist nicht einfach nur ein besseres Leitungssystem, um größere Informationsmengen an beliebig viele Leute vermitteln zu können. Es ist ein verteiltes Netzwerk, das ganz eigene Effekte hervorbringt, die vorher so nicht möglich waren.

1300 Chinesen

„Eine Technologie ein Korallenriff zu nennen, ist das größte Kompliment.“ Foto von Kydd Pollock / SFWS Pacific unter CC BY 2.0.
„Eine Technologie ein Korallenriff zu nennen, ist das größte Kompliment.“ Foto von Kydd Pollock / SFWS Pacific unter CC BY 2.0.

Microsoft ist ein Unternehmen, das von und für akademische Erfolgsmenschen gebaut wurde. Die Anlagen in Redmond heißen sogar „Campus“. Bill Gates hatte ein absolutes Spitzenergebnis im standardisierten SAT-Studienzugangstest, Punktzahlen und Notenschnitte spielen eine Schlüsselrolle bei der Rekrutierung. Auf diese Weise siebte Microsoft einmal aus den besten 2000 der chinesischen MINT-Studenten in einem langwierigen Verfahren die 20 allerbesten heraus. „Man muss sich klar machen“, sagte Bill Gates, „dass es in China, wenn du einer aus einer Million bist, noch 1300 andere wie dich gibt.“ Die Besten von 1,3 Milliarden! Elite in Potenz! Macht das Microsoft zur intelligentesten Firma der Welt?

Dagegen hält Doc Searls, ein namhafter Sprecher der Open Source-Bewegung, seine Erfahrungen: Dort kann teilnehmen, wer mag. Der Code wird im Netz entwickelt, das Wissen wird wildwüchsig und informell weitergegeben. Die Open Source-Software für PCs und Internet (Linux, Apache, Mozilla …) ist den Microsoft-Produkten mindestens ebenbürtig. Nur dass dahinter eben eine Vielzahl weitgehend namenloser Freiwilliger steckt, die eben nicht aus irgendwelchen Eliteschmieden hervorgegangen sind.

Es stimmt schon, sagt Searls, dass im Zeitalter der Globalisierung und des Internet die Welt des Wissens „flach“ geworden ist: Die Grenzen sind gefallen. Es gibt die alten geschützten Räume nicht mehr, die Intelligenz der unzählig Vielen lässt sich nicht mehr abschotten und wegfiltern. Aber die Konsequrenz ist ganz anders, als es sich die Elite-Visionäre der „digitalen Bildung“ vorstellen. Was wir von der Open Source-Bewegung lernen können, ist, dass im Netz-Zeitalter das ganze IQ- und Elite-Brimborium hinfällig ist.

Es geht nämlich gar nicht um mongolische Teenager-Genies, die mit unseren Abiturienten in Wettbewerb treten. Die „genialen Einzelnen“ verlieren ihren Nimbus, wenn die wirklich wertvolle Wissensarbeit inzwischen eher einem Korallenriff gleicht. Diese zwei Vorstellungen von Bildung im digitalen Zeitalter sind so verschieden wie Bill Gates, der Microsoft-Milliardär, und Doc Searls, der Linux-Blogger. Das künftige Zentrum der Wissenswelt ist gar nicht mehr in Stanford und am M.I.T., sondern überall. Die Ära des Aussiebens geht zu Ende.

Es zeigt sich nun, dass Intelligenz und Innovationsgeist überhaupt nichts Rares sind. Sie sind so gewöhnlich wie Silizium. Tatsächlich sind sie ein Effekt aus dem Zusammenwirken von sehr vielen Impulsen, die sich im kollektivem Netz verdichten und verketten. Die Herausforderung besteht gar nicht darin, dass man nun die 1300 vermeintlich Besten unter 1,3 Milliarden Individuen finden kann. Die wahre Bildungsrevolution ergibt sich mit innerer Logik aus der täglichen Praxis im Web. Hier entwickelt sich ein neuartiges technisches Medium, das die zersplitterte geistige Kraft von Millionen ganz normaler Menschen auffangen, filtern, anreichern und verstärken kann. In China wie in der Oberpfalz.

Diese Open Source-Idee von Bildung wird unsere eingefahrenen Verhältnisse in den nächsten 5, 10, 15 Jahren erst aufweichen und dann umstürzen. Nicht als revolutionäre Idee von irgendwelchen Pädagogik-Gurus, sondern als ständige unterschwellige Erfahrung, die schon mit dem Smartphone unter der Schulbank beginnt. Wie der Futurist Buckminster Fuller um 1970 herum sagte:

„Du wirst niemals etwas verändern, indem du ein bestehendes System bekämpfst. Wenn du etwas verändern willst, baue ein neues Modell daneben, das irgendwann das alte Modell überholt erscheinen lässt.“

Und genau damals entstanden, vorerst noch kaum bemerkt, der PC und das Internet.


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Maertin Lindner berät Organisationen und Unternehmen dabei, wie sie Wissens- und Lernprozesse mit den Mitteln des Web neu gestalten können. Autor, Blogger, Speaker.