„Bildung“ wird entbündelt: Wie das Netz das alte Spielfeld neu definiert

Man muss sich die Dorfkirchen um 1910 so ähnlich wie Internet-Funkmasten vorstellen, die den einzigen Zugang zur Bildung boten. Foto von <a title="Zum flickr-Profil" href="https://www.flickr.com/photos/mike_germany/243058196">Michael Freyermuth</a> unter <a title="Zum Lizenztext" href="CC%20BY SA 2.0">CC BY SA 2.0</a>.
Man muss sich die Dorfkirchen um 1910 so ähnlich wie Internet-Funkmasten vorstellen, die den einzigen Zugang zur Bildung boten. Foto von Michael Freyermuth unter CC BY SA 2.0.

Lernen im digitalen Klimawandel – Teil II

Das Netz verändert das Spielfeld, auf dem „Bildung“ stattfindet, in all den vielen verschiedenen Bedeutungen, die dieses Wort seit 150 Jahren bündelt. Nun ist nichts mehr selbstverständlich. Die Elemente brechen auseinander, und was sich neu bildet, hängt nicht zuletzt von uns selbst ab. Wir werden neu verhandeln müssen, was wir unter Bildung verstehen wollen. Dafür ist es nützlich, aus der neu gewonnenen Netz-Perspektive einen Blick zurück auf das zurückliegende Jahrhundert der „bürgerlichen Bildung“ zu werfen.

Mein Großvater hätte das Netz geliebt


Als mein Großvater 1965 in Pension ging, war er wohl das, was man einen Bildungsbürger nennt: Akademiker mit Doktortitel, Direktor einer staatlichen Anstalt, Geige spielend, bekannt für seine guten Tischmanieren, Urlaubsreisen nach Griechenland, um Ruinen zu besichtigen. Ein idealer Repräsentant der bürgerlichen Epoche, die sich ihrer selbst noch sicher war. Zeuge einer Kontinuität, die zurückreichte bis Humboldt und Goethe.

„Die Bildung und das Netz – Lernen im digitalen Klimawandel“
eine Artikelreihe von Martin Lindner

„Die Bildung und das Netz – Lernen im digitalen Klimawandel“ von Jöran Muuß-Merholz und Melanie Kolkmann unter CC BY 3.0.
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Aber das stimmt nicht. Wenn man seinen Lebenslauf genau betrachtet, war das alles andere als ein harmonischer Bildungsgang. Der siebte von zehn Söhnen von Oberpfälzer Kartoffelbauern wurde von der winzigen Dorfschule auf ein katholisches Priesterseminar geschickt, weil nur einer den Hof erben konnte. Auf dem Gymnasium lernte er Geige und Latein, mit all den Prügeln und Demütigungen, die lange zu einer Internaterziehung selbstverständlich dazugehörten. Er wollte dort weg, und der Weltkrieg gab ihm die Chance dazu. Kurz vor Kriegsschluss noch eingezogen, machte er ein Notabitur und verfolgte dann auf eigene Faust seinen eigenen Weg, ohne elterliche und staatliche Unterstützung: Apothekerlehre als Sprungbrett zum Chemiestudium in München, Promotion in Lebensmittelchemie, damals ein ganz neues Hightech-Fach. Er entwickelte Fertigungsverfahren für Kartoffelpüree-Pulver und wurde später als Experte im Fernsehen und im SPIEGEL befragt, als Sachverständiger bei den ersten Weinskandalen der Wirtschaftswunderjahre.

Für meinen Großvater war die Schule der einzig mögliche Weg heraus aus dem Dorf, um Teil der Wissensgesellschaft zu werden. Schultafel und Schulbuch waren das einzig zugängliche Interface zur Wissenswelt. Die katholische Weltkirche war sein Internet. (Ein Bruder ging später als Jesuiten-Professor nach Kanada.) Die katholische Studentenverbindung Albertia war seine Community. Er wurde Radio-Nutzer, sobald es für die ersten Geeks benutzbar war. Nach seinem Tod fand ich in seinem Herder-Konversationslexikon Hunderte von ausgeschnittenen Zeitungsartikeln, voller Unterstreichungen und Randnotizen, zu Philosophie- und Technik-Themen vor allem. Ein Papier-Wiki, sozusagen.

Und jetzt stellen wir uns vor, er hätte schon damals im Dorf Netzzugang gehabt. Er hätte nicht aufs Priesterinternat gehen müssen um zu lernen. Oder er hätte jedenfalls sofort überprüfen und hinterfragen können, was seine prügelnden katholischen Lehrer behaupteten. In seinem brandneuen Hightech-Fach hätte er von Anfang an Zugang zu den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und Diskussionen gehabt, weltweit. Und in der Nazizeit wäre er nicht auf die gleichgeschalteten Massenmedien angewiesen gewesen.

Glaubt jemand ernsthaft, dass mein Großvater das Netz als Bedrohung von Bildung erfahren hätte?

Die große Entbündelung

„Bildung“ bündelt sehr verschiedene, durchaus widersprüchliche Dinge in einem einzigen Begriff. Alles fällt so irgendwie in eins: der Wissenshunger der Teenager, der Aufstiegswille der Benachteiligten, die Autorität derjenigen, die bestimmen, was Wissen ist und wer dazu Zugang bekommt. Das Bildungsbürgertum, das Bildungssystem, die Bildungsrepublik, der Standort Deutschland. Humboldt und Schavan.

Man kann den Verfall der alten Bildungswelt gut ablesen an der Plagiataffäre um die Doktorarbeit der Ex-Wissenschaftsministerin Schavan. Zuerst in einem Wiki und dann in einem Blog wurden digitalisierte Texte aus der vordigitalen Zeit schnell und präzise verglichen. Andere Blogs sorgen dann dafür, dass keine Seilschaft mehr das alles unter den Teppich kehren kann. Die verzweifelten Versuchen der Eliten, das aufzuhalten, zeigten, wie hohl und korrupt das alte Bildungsbürger-System wohl immer schon gewesen war.

Heute führen die digitalen Netz-Medien überall zur Auflösung von Strukturen, die bisher fest und selbstverständlich schienen. Zum Beispiel die Musikindustrie des 20. Jahrhunderts: Musik und Gesang liegt überall in der Luft, im Überfluss. Knapp waren „Tonkonserven“: Es war schwierig, die Töne zu speichern, dann industriell zu vervielfältigen, dann über Verlage und Händler zu verteilen. Und dazu brauchte man Printmedien, Radio und TV, um bekannt zu machen, dass es dieses Stück Musik gab: diese bestimmte Platte, dieses bestimmte Album.

Die mp3 hat dieses ganze Gebilde in seine Einzelteile zersprengt. Musik ist nicht mehr knapp: Sie kann nun auf dem PC aufgenommen, verlustfrei kopiert und über das Netz sofort überallhin verteilt werden. Das wirkt sich sofort auf alles aus: auf die Fabriken, auf die Handelsketten, auf die Aufnahmestudios, auf Funk, Fernsehen und Print, auf die große Kultur und auf die subkulturellen Szenen vor Ort.

Derzeit wiederholt sich das mit Texten und Publikationen. Im Read/Write Web kann jede/r sofort Texte schreiben, die aussehen wie gedruckt, und die ganze Welt kann sie lesen. Damit fällt ein ganzes System weg, das dazu da war, den Zugang zum knappen und wertvollen gedruckten Wort zu regeln. Dazu kommen Videos, auf denen man sich einen lebendigen Eindruck von wissenden Menschen machen kann: wie sie denken, wie sie sich geben.

Skywriting

Das Bündel, das wir Bildung nennen, dieses Gewebe von Praktiken, Überzeugungen, wirtschaftlichen Interessen, sozialen Grenzziehungen und Wissensprozessen, hat sich zum letzten Mal Anfang der 1970er Jahre erneuert. Dann wurde es gleich wieder starr und unflexibel. Die innere Brüchigkeit zeichnete sich schon lange ab, aber der erste sichtbare Bruch kam dann tatsächlich durch die Digitalisierung. Das war 1995, und zuerst war es noch gar nicht das Internet, sondern der Geist des Bildungs-Managements, getrieben von Prozess-Optimierung und SAP-Denken. Seitdem wird alles in Geld, Zeit und Kreditpunkten gemessen und evaluiert. Die andere Seite der digitalisierten Bildung, das Internet, entdeckten anfangs nur einige Wissenschaftler: die Faszination des Skywriting, den gedankenschnellen und weltweiten Austausch von Ideen und Gedanken, die früher mindestens fünf Jahre gebraucht hätten, bis sie den Weg durch die Filter und Kanäle des Printsystems gefunden hätten. Wenn überhaupt.

Im bürgerlichen Zeitalter war Bildung geprägt vom Geist der Kaserne und der Bürokratie, mit Katheder und Bibliothek im Mittelpunkt. Wichtigstes Medium waren dabei gar nicht so sehr die Bücher, sondern die gedruckten Formulare des bürokratischen Apparats. In der Schule wurden und werden ja tatsächlich kaum Bücher gelesen. Schulbücher hatte immer schon viel mehr mit dem Curriculum zu tun als mit Büchern, in denen neue Ideen greifbar werden.

Die SAP-PISA-BOLOGNA-Bildung hat die Inhalte kaum angetastet: Alter Stoff, gepresst durch neue Leitungen. Die eigentliche Entbündelung des gewohnten Bildungs-Bündels geschieht erst durch das Netz, und sie hat gerade erst eingesetzt. Derzeit läuft die digitale Informations- und Wissensrevolution noch weitgehend an den Bildungsinstitutionen vorbei. Das wirklich aktuelle und wichtige Wissen, das wir für die grundsätzlich veränderte Welt brauchen werden, zirkuliert abseits der Schulen und am Rand von Academia.

Wer z.B. etwas lernen möchte über Softwareentwicklung, Customer Experience und Service Design, Datenjournalismus und Datenökonomie, die Entstehung von neuartigen sozialen Strukturen im digitalen Raum oder auch nur über Schreiben/Lesen im Netz und für das Netz  … von Professoren an Akademien wird es eher nicht gelehrt. Im Internet kann es jede/r finden – wenn man es kann. Aber man hat wenig Spielraum, sich damit zu beschäftigen, weil man das alte Spiel trotzdem mitspielen muss. Paradoxerweise der Preis für konventionelle Abschlüsse und Zertifikate immer höher, gemessen in Geld und Lebenszeit, obwohl gleichzeitig ihr gesellschaftlicher Kurswert rapide fällt.

Dass die digitale Revolution Folgen haben wird, ist unvermeidlich: nicht nur für das Bildungssystem, sondern für jeden individuellen Bildungsprozess. Wir wissen noch nicht genau welche. Die Wirkungen fangen gerade überhaupt erst an, für den Mainstream spürbar zu werden. In jedem Fall gilt aber: Es ist nichts mehr selbstverständlich. Entbündelung bedeutet hier zuerst, dass sich jedes einzelne Element des alten Systems neu legitimieren muss: das Zeugnis und die Prüfung, die Lehre und das Lernen durch Teilnahme an wissenschaftlicher Arbeit, die Autorität von Menschen und Schriften, die Regeln für den Zugang … Alles muss sich aus sich selbst heraus neu begründen und seine Funktion in einem neuen Gefüge finden.

Wohin das alles führen wird, ist noch nicht entschieden. Das neue, datengetriebene Bildungs-Management will den Apparat nicht abschaffen, sondern neu erfinden.  Bildung soll noch durchgeplanter werden, was immer dabei genau unter „Bildung“ verstanden wird. Das Netz markiert den Gegenpol: einen neuen, offenen Raum des Austauschs zwischen allen, die sich zu bilden suchen. Früher verfügten die großen Apparate über viel mehr Ressourcen, tecnische Möglichkeiten und Infrastrukturen als die Einzelnen. Inzwischen hat sich das umgedreht: Die Leute sind privat viel besser mit digitalen Medien ausgestattet als an den Arbeitsplätzen von Großunternehmen. Für Schulen und Universitäten gilt dasselbe.

Letztlich hängt es davon ab, was wir unter Bildung verstehen wollen: Ein Substantiv oder ein Verb. Ein System, wie es sich seit ca. 1850 allmählich auskristallisierte, oder viele offene, miteinander korrespondierende Bildungsprozesse. So war der Begriff nämlich gemeint, als er aufkam, zur Zeit der Spätaufklärung um 1800. Heute können wir daran wieder anknüpfen. (Es gibt tatsächlich eine ganze Menge interessanter Parallelen zwischen der Wissenskultur der Aufklärung und den ersten Jahrzehnten des Internet-Zeitalters.)

Das nie ganz erreichte Ziel dieser Bildungsprozesse lässt sich definieren als die Sicherheit und Orientierung, die sich daraus ergibt, dass man in ständiger Auseinandersetzung mit der Umwelt ein hinreichend komplexes Weltbild und Selbstbild entwickelt. Das gilt für Einzelne wie für ganze Gesellschaften. Nun ist die Umwelt, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, digital geworden. Die Bildung wird folgen, so oder so.


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Maertin Lindner berät Organisationen und Unternehmen dabei, wie sie Wissens- und Lernprozesse mit den Mitteln des Web neu gestalten können. Autor, Blogger, Speaker.