Die Bildung im digitalen Wandel – Zwischen Abwehrschilden und Trojanischen Pferden

Foto „#Sketchnotes zum #stf13 Streitgespräch zwischen @gibro und @jmm_hamburg“ von <a href="http://www.flickr.com/photos/dj_hummus/10035965713/">Henning aka Plastikstuhl</a> unter <a href="https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/">CC BY 2.0</a>.
Foto „#Sketchnotes zum #stf13 Streitgespräch zwischen @gibro und @jmm_hamburg“ von Henning aka Plastikstuhl unter CC BY 2.0.

Ein Streitgespräch zwischen Guido Brombach und Jöran Muuß-Merholz

Jöran Muuß-Merholz: Guido, kennst Du folgendes Zitat aus unserer E-Mail-Kommunikation? „Es geht um ’neues Lernen mit Medien’ und nicht um ’Lernen mit neuen Medien’.“

Guido Brombach: Das war vor ungefähr zehn Jahren, als wir gemeinsam Seminare für Lehramtsstudierende gegegeben haben, oder?

JMM: Genau. Das Wort vom „neuen Lernen mit Medien“ hatten wir uns bei Prof. Stefan Aufenanger abgeguckt. Wir wollten in den Lehraufträgen erarbeiten, dass neue Medien im Bildungsbereich das Potential für echten Wandel haben – aber nicht wenn man einfach das „alte Lernen“ jetzt mit Computern statt auf Papier praktiziert.

GB: Das Potential der neuen Medien kommt erst zum Tragen, wenn sie nicht 1:1 die analogen Gewohnheiten abbilden, sondern sich das Wesen des Digitalen zunutze machen. Dann werden wir sehen, dass die digitalen Medien sich weniger für frontale Lerneinheiten eignen, sondern ihre Vorteile dann entfalten, wenn sie für lernerzentrierte Formen genutzt werden. In der Hand der Lernenden werden die neuen Medien erst spannend, weil sie mehr Selbstbestimmung, mehr Kreativität, mehr Zusammenarbeit, mehr Individualität beim Lernen ermöglichen.

JMM: Große Hoffnungen – und was davon wurde Realität?

#stf13
Shape The Future – Fachtagung „Digitale Medien / Web 2.0 in der politischen Jugendbildung“
Zum Themenschwerpunkt…

GB: Die konstruktivistische Lerntheorie geht davon aus, dass Inhalte in schon vorhandene Konstrukte eingepasst werden und dabei in der Regel vom Lernenden passend gemacht, d.h. verändert werden und letztendlich mit den Intentionen des Lehrenden wenig zu tun haben. Dabei verändern sich auch immer die Konstrukte, also die größeren Zusammenhänge. Die digitalen Medien helfen dabei, eigene Wege im Erkenntnisprozess zu gehen, es entstehen individuelle Wissensarchive, die immer wieder an die sich verändernde Informationslage angepasst werden können. Informationsknappheit ist weniger das Problem unserer Zeit, vielmehr die Filterung und Einpassung der Inhalte in die bestehenden Konstrukte.

Zwischenfrage aus dem Publikum: Braucht es noch organisierte Bildung, wo es doch überall informelle Lernkulturen gibt?

Dieses Streitgespräch ist Teil des Buchs „Shape the future. Digitale Medien und politische Jugendbildung“, das Anfang 2015 im Wochenschau Verlag erscheinen wird. Der Band sammelt Erfahrungen aus Projekten mit digitalen Werkzeugen und Online-Medien in der Evangelischen Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung. Weitere Beiträge reflektieren, wie sich politisches Handeln im Netz, Bildungssettings und in der Folge Formate und Angebote der politischen Jugendbildung verändern.

GB: Der von mir beschriebene Erkenntnisprozess hat weniger etwas mit formellen oder informellen Lernkulturen zu tun, das passiert immer. Entscheidend ist aber, dass bei formellen Angeboten der Lehrende qua Definition den Teilnehmenden häufig im Weg steht. Seine Aufgabe ist die Vermittlung, und die kann aber der Referent gar nicht übernehmen, sondern nur der Jugendliche selbst. Bei Seminarangeboten muss also die Seminarleitung sich noch stärker als Unterstützung verstehen und die digitalen Medien können dabei hilfreiche Werkzeuge sein.

Zwischenfrage aus dem Publikum: Welche Rolle müsste dann außerschulische Bildung /politische Bildung haben, Lernende auf diesem Weg zu begleiten?

GB: Mein Vorschlag wären Maker-Spaces, also öffentliche Räume, in denen Jugendliche forschen und kreativ sein können. Hier können Ideen und Projekte entstehen und umgesetzt werden, weil das nötige Werkzeug vorhanden und helfende Hände unterstützen und kritisch nachfragen können. Digitale Tools helfen, den eigenen Lernprozess nachvollziehbar für uns und andere zu gestalten. Im Prinzip so wie ihr es im Projekt gemacht hat.

JMM: Gute Idee. An vielen Orten, gerade in der außerschulischen Jugendbildung, hat sich ja schon vieles verändert. Es gibt diese typischen Settings, in denen man quasi nur ein Thema setzt und den Jugendlichen sagt: „Recherchiert dazu mal Informationen im Netz!“ Häufig kommt dann noch ein weiterer Schritt hinzu: „Und macht draus irgendein digitales Ergebnis. Die Form könnt Ihr Euch aussuchen, z.B. ein Erklärvideo oder eine Prezi.“

GB: … genau sowas hatten wir übrigens vor 10 Jahren in Lehraufträgen oder im Bildungsurlaub gemacht. Wir hatten es „Wiki-Didaktix“ genannt, weil die zentrale Plattform des Seminars ein Wiki war …

JMM: … und schon damals war das falsch. Wir sind ja auch damit gescheitert. Die meisten Seminarteilnehmenden konnten und wollten das nicht. Sie haben uns gebeten und gedrängt, mehr Struktur und Input zu geben. Es war schlicht eine Überforderung, weil wir drei Dinge auf einmal verlangten, die schon jeweils für sich eine Herausforderung sind: 1. Sie sollten sich ein neues Thema erschließen (das Seminarthema nämlich); 2. Sie sollten dazu eine für die meisten vollkommen neue Art des (sebständigen, kooperativen, projekt-orientierten) Lernens praktizieren; 3. Dafür sollten sie eine ihnen unbekannte technische Umgebungen nutzen, nebenbei noch die Hyperlink-Struktur verstehen und die Wiki-Syntax einsetzen. Das war eine krasse Überforderung.

GB: Das stimmt. Ich erinnere mich, dass eine Person weinend zu uns kam, weil sie nicht weiter wusste. Und eine Person sagte: „Entweder ich kriege jetzt hier mal einen Input oder ich reise ab!“

JMM: Ich habe daraus gelernt, dass unsere Rolle als Dozenten auch in solchen Settings noch darin besteht, ausreichend Struktur zu bieten, dass die Lernenden sich sicher darin bewegen können und nicht überfordert werden. Ich würde aber für die politische Bildung an der Grundidee festhalten, nämlich die drei Ebenen *gleichzeitig* zu bearbeiten: 1. Thema, 2. Lernkultur, 3. digitale Umgebungen und Tools. Wer wenn nicht die politische Bildung kann das so angehen? Und für uns kommt noch 4. die reflektive Ebene hinzu. In der Praxis kann das aber bedeuten, dass man mehr Zeit und Raum einplanen muss. Es ist möglich, „nebenbei“ lern- und medienkompetent zu werden. Aber es beansprucht eben einen cognitive load und auch ganz praktisch: Seminarzeit, wenn man die drei Ebenen gleichzeitig bearbeitet. Dort, wo früher vielleicht ein Input zum Thema stand, steht jetzt der Aufwand für das Thema, der Aufwand für die Lernmethode und schlicht auch der Aufwand für die Technik.

GB: Das stimmt natürlich. Auch wir als Dozenten sind da ja Lernende. Man könnte da sagen: „Wir bilden uns fort und die Teilnehmer müssen darunter leiden.“ Aber eigentlich finde ich die Grundidee toll, dass Lernende und Lehrende eine Lerngemeinschaft bilden.

JMM: Und was ist, wenn die Teilnehmenden das gar nicht wollen? Es ist ja nicht so, dass die weniger vorstrukturierten Angebote in der real-existierenden Praxis überrannt werden. Vielleicht hat das Festhalten an traditionellen Angeboten auch damit zu tun, dass Bildungsanbieter fürchten, dass die Teilnehmenden wegbleiben? Oder dass nur „die üblichen Verdächtigen“ kommen – man also noch stärker nur diejenigen erreicht, die politische Bildung am wenigsten brauchen?

GB: Ein festhalten an traditionellen Angeboten kann ich gar nicht erkennen. Projekte wie Shape the future sind ja geradezu der Versuch, neue Formate und Angebote auszuprobieren. Digitale Medien sind hier doch genau der Situation angemessen. Dieses gemeinsame, entdeckende und ergebnisoffene Lernen dient doch dem Versuch die bildungsfernen Menschen zu erreichen. Insgesamt bieten digitale Geräte und digitale Dienste großartige neue Möglichkeiten, auch und gerade für Menschen, die mit dem traditionellen Lernen über Lesen, Schreiben und Zuhören nicht gut zurecht kommen.

JMM: Ich kann Deine Technik-Euphorie nicht teilen. Ich habe schon so viele Geräte und so viele Programme durchprobiert. Und konnte noch nicht einmal die einfachsten Dinge richtig gut umsetzen. Nehmen wir nur mal den Umgang mit Texten. Ich hätte so gerne mein eigenes Wissensarchiv, in dem ich alles, was ich lese, ablegen, sortieren und später durchsuchen kann. Was für ein riesiger und mächtiger Zettelkasten das in digitaler und hyperlinkbarer Form sein könnte! Und was ist stattdessen mit dem digitalen Wandel gekommen? Ich kann mit digitalen Inhalten weniger machen als früher mit den analogen Vorgängern. Nehmen wir zum Beispiel Bücher. Die Bücher, für die ich Geld an Amazon oder Apple bezahlt habe, gehören mir ja noch nicht mal richtig. Ich kann da nicht Textstellen nach meinen Vorlieben markieren und kopieren, hin- und herschieben und verknüpfen …

GB: Die Plattformen, die du nennst, mögen die Platzhirsche am Markt sein, weil sie die analoge Form nachvollziehbar und anschlussfähig digital umgesetzt haben, aber es handelt sich um Übergangstechnologien. Das Buch wird sich ändern, aber langsam und schrittweise, um den Nutzenden mitzunehmen. Ich finde vor allem am Kindle von Amazon merkt man, dass die Weiterentwicklung der Software zum Lesen von Büchern sich langsam aber stetig weiter vom bisherigen Buch entfernt. Natürlich kannst Du im Kindle und natürlich auch auf anderen Plattformen markieren, das geht doch wunderbar …

JMM: … aber nur solange ich unter deren Dach bleibe, also in deren App. Ich schaffe es nicht, die Inhalte aus zwei Büchern zusammenzubringen, wenn ich ein Buch über meinen Kindle und eins über iBooks gekauft habe. Es ist, als müsste ich für die einen Inhalte in den Lesesaal in der Südstadt gehen und für die anderen Inhalte in den Lesesaal in der Nordstadt. Die Bücher, für die ich ja sogar bezahlt habe, darf ich aber nicht aus dem Lesesaal rausnehmen. Und wenn ich Pech habe, dann macht der eine Lesesaal plötzlich zu oder lässt mich aus irgendwelchen Gründen nicht mehr rein. Und alle meine Markierungen und Notizen sind dann verschwunden. Ich habe überhaupt nicht die Verfügungsgewalt über meinen eigenen Inhalte. Ich bin nicht der Souverän meines eigenen Lernprozesses!

GB: Da gehst du zu weit. Natürlich bleibst du Souverän deines eigenen Lernprozesses. Es kommt eben auf die Wahl des richtigen Dienstes an. Amazons Kindle ist vielleicht auch nicht die richtige Hardware, um Texte zu lesen. Sie wollten eine Software, die das Buch digital macht, die Annotationsfunktion nutzt ein Bruchteil aller Nutzenden. Aber auch der Kindle lässt sich soweit anpassen, dass der Lernende ein wenig mehr Herr seiner eigenen Daten wird. Grundsätzlich heißt es aber aufgepasst bei der Wahl der Tools. Dort lautet die erste Regel: Selbst hosten ist besser als einen Dienst kostenlos nutzen. Die zweite Regel lautet: Für einen Dienst zu bezahlen ist besser, als die kostenlose Variante zu gebrauchen. Und die dritte Regel lautet: Die hinterlassenen Daten müssen exportiert werden können. Um Texte zu lesen eignet sich Evernote oder Diigo.

JMM: Das sind wieder lauter Systeme, von denen ich komplett abhängig bin. Ich nutze selbst Diigo, weil ich dort Webseiten nicht nur markieren, sondern auch als Cache-Version „speichern“ kann. Damit sind sie für mich immerhin übermorgen noch da, wenn der Website-Betreiber die Seite offline genommen hat. Aber ich habe nicht mal eine vernünftige Export-Funktion, mit der ich die Inhalte übermorgen für mich sichern kann. Ich habe meine Abhängigkeit nur von einem Dienst zum anderen verlagert. Ich muss es mal deutlich sagen: Es ist doch nicht auszuhalten, dass jeder Geheimdienst und so mancher Internetkonzern mehr darüber weiß, was ich letztes Jahr gelesen habe, als ich selbst!

GB:  Um Texte auf der eigenen Plattform beständig zu archivieren eignet sich wallabag. Um den RSS-Reader auf dem eigenen Server zu betreiben, können wir fever nutzen. Noch nie davon gehört? Kein Wunder, in dieser Übergangszeit haben wir noch nicht genug Selbstvertrauen gefasst, eigene Infrastrukturen zu errichten.

JMM: Ich kenne niemanden auf der ganzen Welt, der das für sich vernünftig umgesetzt hat. Vielleicht Beat Doebeli mit seinem Biblionetz. Aber der betreibt einen enormen Aufwand dafür. Das ist elitärer Spielkram für Leute wie Dich oder mich. Das große Versprechen war doch, dass alle™ die digitalen Möglichkeiten nutzen können.

GB: Wir haben noch keine nachbarschaftlichen Strukturen in unseren Netzwerken entwickelt. Aber Open Source Software ist doch so angelegt, dass sie nicht nur von mir selbst betrieben und genutzt werden kann. Ich kann auch anderen in meiner näheren Umgebung einen von mir installierten und administrierten Dienst anbieten. D.h. es ist nicht so wichtig, es selbst zu können, sondern jemanden zu kennen, der es kann.

JMM: Ich finde, wir sind da 2014 nicht näher dran als vor 15 Jahren. Nerds mögen für sich Lösungen basteln und ihr Wissen mit anderen Nerds teilen. Aber die allermeisten Menschen möchten Dienste, die das Leben einfacher machen und nicht (erstmal) komplizierter. Deswegen lieben die Leute ja auch das iPad – da werden mir zwar grundsätzliche Entscheidungen abgenommen, aber dafür funktioniert das wenigstens.

GB: Naja, anderes funktioniert eigentlich auch…

JMM: Es funktioniert eben nur eigentlich. Das ist auch so ein nie eingelöstes Versprechen von uns Netzapologethen: Die Technik wird immer einfacher. Ich gebe zu, dass gerade durch Apple viel passiert ist. Aber es gilt immer noch das Gesetz der Eigentlichkeit für die Technik:

  • Eigentlich ist die Bedienung der Geräte ganz einfach – aber in der Praxis suche ich manchmal stundenlang nach einer Funktion.
  • Eigentlich ist alles flexibel anpassbar – aber in der Praxis geht meist genau das nicht, was ich versuche.
  • Eigentlich funktioniert die Technik – aber bei jeder Tagung, auf der ich bin, verzweifelt mindestens eine Person an der banalen Verbindung zwischen Computer und Beamer.
  • Eigentlich werden Akkus und Netzempfang immer besser – aber dennoch trete ich keine Zugreise ohne zwei Ladekabel an. Und meine Chancen, dass ich wirklich guten Internetzugang habe, ähnelt auch eher einem Glücksspiel. Ganz zu schweigen von ländlichen Gegenden, in denen Bildungseinrichtungen immer noch die Bandbreite eines Entwicklungslandes haben.

GB: „Eigentlich“ kennen wir in der Bildung ziemlich gut, auch ohne digitale Geräte, das ist kein schlagendes Argument. Bildungssettings kennen so viele Unwägbarkeiten, da ist Technik nur eine weitere. Wie oft hoffte ich, dass die Teilnehmenden einen Stift dabei haben und am Ende hieß es: „Wir wussten nicht, dass wir was mitschreiben sollten.” Ich bleibe dabei, wir brauchen Seminare bei denen nicht beschult wird, sondern bei denen die Teilnehmer/innen selbst anfassen und gestalten statt nur rezipieren.

JMM: Das war ja das große Versprechen des Web 2.0, auch für den Bildungsbereich: Wir würden alle gemeinsame Wissenswelten gestalten. Aber was ist daraus geworden? Als erstes Beispiel wird immer Wikipedia genannt. Das ist ja auch ein tolles Beispiel, auch wenn es in den letzten Jahren eher unerfreuliche Schlagzeilen gab. Aber nach Wikipedia kommt erstmal lange nichts. Wo sind denn die anderen Beispiele für gemeinsam gestaltete Wissenswelten?

GB: Du denkst zu zentralistisch! Es gibt die großen gemeinsamen Welten wie Wikipedia. Aber das Web steht doch gerade für ganz viele kleine Wissenswelten, die wir dezentral aufbauen – und dann miteinander vernetzen können!

JMM: … baut kleine geile Wikis auf?

GB: Es muss nicht unbedingt ein Wiki sein. Ein Blog oder ein Video oder ein Podcast ist auch schon Teil der von uns gemeinsam gestalteten Wissenswelt. Darum geht es doch im Web 2.0. Genau darin sehe ich auch das große Potential. Diskussionen in der politischen Bildung werden ganz häufig abgekürzt, in dem ein Teilnehmender sagt “Das muss ja jeder selber wissen”. Unpolitischer geht es eigentlich kaum, solange man Politik als den Ort versteht, an dem gemeinsam Entscheidungen für die Gesellschaft verhandelt werden. In einem kleinen Forschungsprojekt an der Uni Duisburg-Essen haben wir herausgefunden, das die imaginierte Öffentlichkeit für das Projektergebnis ein wichtiges Korrektiv ist. Also allein die Vorstellung, dass prinzipiell jeder Mensch die erstellten Ergebnisse einsehen könnte, führt zu einer gewissenhafteren Auseinandersetzung mit dem veröffentlichten Ergebnis. Deshalb sage ich: Nutzt die Öffentlichkeit und sein pädagogisches Potential.

JMM: Auch hier befürchte ich, dass das Pendel ins Extrem ausschlägt. Plötzlich soll alles öffentlich passieren. Dabei braucht doch auch – vielleicht sogar besonders – die politische Bildung Schutzräume für Ausprobieren, Fragen, Diskutieren. Ansonsten droht uns ein digitales Panoptikum.

GB: Echte Partizipation fängt bei der Gestaltung des Lernraums an und hört bei der Übernahme der Verantwortung für den eigenen Lernprozess auf.

JMM: Die Idee ist gut. Aber es gibt wenige Beispiele, an denen diese „echte Partizipation“ wirklich echt ist. Meistens ist es doch nur Sandkasten-Partizipation, bei der man Teilhabe nur simuliert, nur halt jetzt im großen und öffentlichen Sandkasten.

GB: Vielleicht hast Du übertriebene Ansprüche. Es braucht nicht die große Wikipedia sein oder die politische Revolution. Es passiert im Kleinen, im Seminar, in Projekten. Wir stehen am Anfang und du bist viel zu ungeduldig. Für die meisten ist das Internet wesentlich jünger als für dich und mich.

JMM: Nein, das hat nichts mit Geduld zu tun, sondern mit Veränderungsresistenz. Die Bildungsinstitutionen wollen sich nicht ändern. Inzwischen beginnen sie, digitale Technologien zu integrieren, um ihre „alten“ Ziele damit zu verfolgen. Insofern integrieren sie nicht, sondern assimilieren. Guck Dir doch die Vorzeige-Beispiele, die iPad-Klassen oder Laptop-Schulen. In einer der Schule, die wahrscheinlich den stärksten Hype erfährt, haben die Tische für die Klassen, in denen eine Einpassung für die Tablets eingefräst ist. Das ist für mich eine exakte Metapher dafür, wie sie die digitale Technologie sehen: Sie hat einen vordefinierten, standardisierten Platz im Rahmen eines vorgegeben Konzeptes, um damit das Lehren zu optimieren. Alles andere wird möglichst ausgeschaltet. Und zwar im Wortsinne ausgeschaltet: Wir haben kastrierte Geräte, bei denen nur erwünschte Funktionen möglich sind. Wir haben gefilterte Netze, in denen nur die vorgegebenen Orte im Netz zugänglich sind. Und wir haben elekronische Whiteboards, an denen die Lehrenden jetzt bunte PowerPoint-Präsentationen machen. Frontalbeglückung 2.0. Nichts mit Selbstbestimmung der Lernenden.

Dieses Streitgespräch ist Teil des Buchs „Shape the future. Digitale Medien und politische Jugendbildung“, das Anfang 2015 im Wochenschau Verlag erscheinen wird. Der Band sammelt Erfahrungen aus Projekten mit digitalen Werkzeugen und Online-Medien in der Evangelischen Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung. Weitere Beiträge reflektieren, wie sich politisches Handeln im Netz, Bildungssettings und in der Folge Formate und Angebote der politischen Jugendbildung verändern.

GB: Dagegen macht sich Widerstand Luft. Handyverbote zeitigen immer häufiger Reaktionen und polarisieren. Die Lernenden werden zunehmend renitent und lassen sich Beschulungen aus dem 20. Jahrhundert nicht mehr gefallen. Initiativen und Kampagnen wie Kreidestaub, Revolution Bildung, und viele andere zeigen, die Lernenden wehren sich.

JMM: Das sind Randerscheinungen. Man darf die Macht der Institutionen nicht unterschätzen. „Alle Energie auf die Deflektorschilde“ (Axel Krommer) ist das Gebot der Stunde. Das finden einige Beteiligte schade, aber die große Mehrheit findet es richtig, damit die alte Ordnung nicht zerfällt. Handyverbote werden meist von den Lehrenden und den Eltern gemeinsam durchgesetzt. Und auch viele Schüler finden das nicht schlimm.

GB: Deflektorschilde?

JMM: Ja, bei Raumschiff Enterprise sind das die Schutzschilde, die man rund um das Schiff zur Abwehr von allem einsetzt, was von außen kommt.

GB: Ah, ok. Ich bin mir relativ sicher, um bei deinem Bild zu bleiben, dass die digitalen Medien hier als Viren fungieren, die das Hochfahren der Deflektorschilde stören können.

JMM: Schön wär’s. Aber ich sehe in der Gesellschaft insgesamt und in den Bildungsinstitutionen besonders wenig Lust zum Neues Ausprobieren und zum Aufbruch in die Wissensgesellschaft. Stattdessen dominiert die Sehnsucht nach Kontrolle und Ordnung. Wenn die Welt schon so unübersichtlich wird, will man wenigstens hier noch verstehen und kontrollieren, was passiert.

GB: Bildungssysteme sind stabil. Das müssen sie auch sein, weil sie ja nicht jedem Trend hinterherlaufen können. Die digitalen Technologien haben aber den Wandel und die Unbeständigkeit zum Standardzustand gemacht. In welche Richtung es in den nächsten Jahren weitergeht, vermag niemand zu sagen. Die digitalen Medien können aber für das Bildungssystem das Trojanische Pferd oder zumindest der Katalysator sein, der nötig ist, um sich auf den Standard-Zustand Wandel einzustellen. Ich zumindest hoffe darauf, dass nicht nur Faktenwissen, sondern auch die Kompetenz im Umgang mit dem Wandel erlangt werden kann, auch wenn es nicht zum Masterplan des Bildungssystems gehört.

JMM: Ich hoffe, Du behältst Recht und ich irre mich.


Creative Commons Lizenzvertrag Inhalte auf pb21.de stehen i.d.R. unter freier Lizenz (Informationen zur Weiterverwendung).
Der Artikel (Text) auf dieser Seite steht unter der CC BY 3.0 DE Lizenz. Der Name des Autors soll wie folgt genannt werden: Guido Brombach und Jöran Muuß-Merholz.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken finden sich direkt bei den Abbildungen.

Jöran ist Diplom-Pädagoge und freiberuflich in verschiedenen Bildungsbereichen aktiv. Am liebsten mag er Schnittmengen aus 1. Bildung / Lernen, 2. Medien / Kommunikation und 3. Management / Organisation.